Wo ist „Lidice“?
Kunst-Krimi

Wo ist „Lidice“?

Der Maler Willi Sitte hätte in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert. Er hinterließ das Rätsel um ein seit 60 Jahren verschwundenes Gemälde

28. 2. 2021 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Kadir Celep

Willi Sitte (1921–2013): geboren und aufgewachsen in der Tschechoslowakei, Sohn einer Tschechin und eines Deutschen, ausgebildeter Musterzeichner. Im Zweiten Weltkrieg erst Wehrmachtssoldat an der Ostfront, später Partisanenkämpfer in Italien. Bedeutender Vertreter des sozialistischen Realismus und einflussreicher Kulturfunktionär in der DDR.

Gisela Schirmer: Kunsthistorikerin und Herausgeberin der Autobiographie „Willi Sitte: Farben und Folgen“, beschäftigte sich intensiv mit Sittes monumentalem Historienbild über den Massenmord von Lidice, das seit fast 60 Jahren als verschollen gilt.

PZ: Willi Sitte war ein überzeugter Kommunist. Er beging als Genosse mehrfach eigene „Fehlerkritik“ und war lange Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR. Auch deshalb gilt er wohl im Westen als der DDR-Staatskünstler schlechthin. Zu Recht?
Gisela Schirmer: Dass er mit dem DDR-System verbunden ist, steht außer Frage. Ausdrücklich muss man anfügen, dass er nicht nur im Westen als DDR-Staatskünstler gilt, sondern auch im Osten. Dort allerdings erst seit der Wende. Und im Westen wurde er vor 1989 durchaus geachtet und ausgestellt, so etwa auf der „documenta“ 1977. Damals ging der Westen auf den Osten zu und erkannte, welch hervorragende Kunst es dort gab. Sitte war quasi ein Aushängeschild für die Kunst der Deutschen Demokratischen Republik. Nach der Wende galt die DDR jedoch zunehmend als Unrechtsstaat und damit wurde auch das Kunstsystem verteufelt.

Dabei vernichteten seine Genossen schon 1951 einen Kalender mit Bildern von ihm, und 1957 wurde er von der SED zu einem Kongress „in erzieherischer Absicht“ eingeladen. Warum kehrte er dem System damals nicht den Rücken?
Für ihn war wichtig, nach dem verheerenden Krieg und dem faschistischen Unrecht ein neues und besseres Deutschland aufzubauen. Dazu wollte er mit seiner Kunst beitragen. Er wollte eine individuelle moderne Kunst entwickeln, die der sozialistischen Utopie entsprechen könnte. Und er hoffte darauf, die Parteifunktionäre von seinen Vorstellungen überzeugen zu können. Das ist ihm in den sechziger und siebziger Jahren weitgehend gelungen. Dabei war er hartnäckig und hat sich gestritten. Als Kommunist wollte er aber nicht gegen die Partei arbeiten. Trotzdem wollte er sich in der Kunst nichts vorschreiben lassen und hat auch in Kauf genommen, bestraft zu werden.

Willi Sitte und Erich Honecker bei der Eröffnung der DDR-Kunstausstellung (Dresden 1987) | © Bundesarchiv

Sitte wurde 1921 im nordböhmischen Kratzau (Chrastava) geboren. Seine Mutter war Tschechin, der Vater bereits Kommunist. Als Jugendlicher zeichnete er wichtige Themen aus der tschechischen Geschichte, wie den Prager Fenstersturz. Und bis zu seinem Lebensende beherrschte Sitte angeblich die tschechische Sprache. Wie sehr hat ihn seine Herkunft geprägt?
Erkennbar war für mich, dass er die böhmische Küche sehr schätzte, besonders den böhmischen Apfelkuchen. Und er hatte in seiner Kindheit ein großes Vorbild, den aus Kratzau stammenden Künstler Joseph von Führich, dessen Zeichnungen in seinem Schulhaus ausgestellt worden waren. Ihm eiferte er nach, wenn er diese Themen aus der Geschichte zeichnete.

Sitte kam 1947 nach Halle. Aus seiner böhmischen Heimat vertrieben wurde er als Kommunist gleichwohl nicht.
Er wollte eigentlich in Italien bleiben, wo er sich zum Ende des Krieges den Partisanen angeschlossen hatte und auch eine Wohnung besaß. Doch er kam noch einmal nach Kratzau, um seine Eltern zu besuchen. Als Kommunisten hätten sie zwar in der Tschechoslowakei bleiben können, aber als „Halb-Deutsche“ war es für die Familie dort nicht einfach. Sie wollten auch deshalb nach Deutschland, weil all ihre Freunde weggegangen waren. Willi Sitte machte den Umzug mit, konnte damals von der DDR aus jedoch nicht nach Italien zurück.

Gedenktafeln für Willi Sitte | © ŠJů, CC BY-SA 3.0

Sie schreiben, das Massaker von Lidice habe ihn nie losgelassen. Bei einem Aufenthalt in Prag 1956 gab er sich selbst den Auftrag zu dem „Lidice“-Gemälde. Ein Jahr später besuchte er nochmals den Ort, der als „Vergeltungsaktion“ für das Attentat auf Heydrich im Juni 1942 vernichtet wurde. Stufte Sitte selbst das Bild als sein Hauptwerk ein?
Ich glaube nicht, dass er „Lidice“ als sein Hauptwerk angesehen hat. Es war aber ein sehr wichtiges Werk für ihn. Er hatte damals seinen künstlerischen Stil noch nicht gefunden. 1982 sagte er in einem Interview, dass ihm dieses Bild etwas zu unterkühlt erscheine und ihm nun vielleicht Besseres gelingen könnte. Aber er hatte sich mit „Lidice“ in vielen Studien sehr lange und intensiv auseinandergesetzt. Es war ein politisches Thema, das ihn durch seine tschechische Herkunft und seine Kriegserlebnisse persönlich berührte. Zutiefst nahe ging ihm seine Begegnung mit den Frauen von Lidice. Sie weinten, als sie ihm erzählten, was damals passierte.

Warum wählte Sitte für „Lidice“ das riesige Format eines Dreitafelbildes auf zwölf Quadratmetern und wie gestaltete er – kurz gesagt – dieses Werk inhaltlich?
Für das Format könnte Picassos „Guernica“ eine Rolle gespielt haben, zumal Sitte Picasso in den fünfziger Jahren als sein großes Vorbild sah. Damit bekräftigte Sitte, dass dieses Bild in einem öffentlichen Raum gezeigt werden soll. Er wählte dafür das mittelalterliche Altarformat des Diptychons mit Predella, wodurch das historische Thema eine überzeitliche Bedeutung erhält. Die sitzende Frauengestalt auf der linken Tafel wird durch ihre Größe bildbeherrschend. Sie steht für die zurückgekehrten Frauen, die den Ort Lidice wieder aufbauten und die Erinnerung bewahrten. Auf der rechten Tafel ruhen sich gesichtslose SS-Soldaten in einer Zigarettenpause von ihrer Vernichtungstat aus. Die ermordeten Männer sind in der Predella dargestellt, wo traditionell der Leichnam Christi erscheint.

Ermordete Einwohner von Lidice (10. Juni 1942) | © Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster

Seine Familie war mit Bergleuten aus Lidice mütterlicherseits verwandt. Hatte dies auch Einfluss auf „Lidice“ bzw. auf seine Werke generell?
Ich glaube nicht, dass diese Verwandtschaft eine Rolle spielte. Wichtig war aber sicher, dass Sitte aus der Tschechoslowakei stammte und deshalb das Thema aufgriff. Lidice war ein Bergarbeiterdorf, auf der linken Tafel des Gemäldes erinnert eine Grubenlampe auf dem Tisch vor der Frau an die ermordeten Bergleute. Und wichtig war auch, dass Sitte mit diesem Werk seine eigenen traumatischen Erlebnisse aus dem Russland-Feldzug verarbeiten konnte.

Sitte veröffentlichte vorab Zeichnungen und Skizzen, um zu testen, wie die Resonanz auf „Lidice“ ausfallen könnte. Wie war die Rezeption darauf in der DDR bzw. ČSSR?
Sie kamen in der DDR größtenteils gut an. Nur einmal wurden aufgestachelte Arbeiter geschickt, um sie zu kritisieren. Vertreter einer Prager Hochschule besuchten Sitte und schlugen dem Ministerium für Kultur in der DDR vor, das Werk dem Dorf Lidice zu schenken. Alfred Kurella, der Leiter der Kulturkommission des ZK-Politbüros, und Kulturminister Alexander Abusch zeigten jedoch keinerlei Verständnis für „Lidice“ und beschimpften Sitte auf übelste Weise. Doch der Wunsch der Tschechoslowaken stand im Raum. So verlangte Abusch, dass Sitte Teile des Bildes neu malen sollte. „Lidice“ war 1959 fertig und sollte im Juni 1962 zum 20. Jahrestag der Vernichtung von Lidice für ein geplantes Museum dort übergeben werden.

Doch zu diesem Zeitpunkt war das Kolossalgemälde plötzlich weg. Wer hatte Interesse daran, dass es verschwindet – und aus welchem Grund?
Für mich ist die wahrscheinlichste Begründung, dass Kurella das Werk beseitigen ließ. Ihm war es zu modern und zu kubistisch, wie er sagte. Es passte überhaupt nicht zu seinen Vorstellungen vom sozialistischen Realismus. Nur so kann ich mir das Verschwinden erklären.

„Kampf der Thälmann-Brigade in Spanien“ (1954-58) | © Bob Ramsak, CC BY-NC-ND 2.0

So ein riesiges Gemälde kann doch aber nicht einfach verschwinden …
Kurella musste dafür sorgen, dass der DDR-Geheimdienst mitspielte. Eine andere vage Möglichkeit wäre, dass auf dem Transport ein Unglück passierte und das Bild beschädigt wurde, weshalb die Transporteure es verschwinden ließen. Als Willi Sitte später das Museum in Lidice besuchte und feststellen musste, dass sein Bild überhaupt nicht vorhanden war, versuchte er in den achtziger Jahren selbst, dessen Verbleib aufzuklären. Aber niemand wusste etwas davon, es war und ist einfach nichts darüber herauszufinden. Ich habe vor mehr als einem Jahrzehnt vor Ort für mein Buch recherchiert. Mir wurde sehr geholfen, man hat die Archive geöffnet und nach irgendeinem Hinweis gesucht. Es gab nichts. Sehr merkwürdig.

Was verwundert ist, dass die Tschechen nicht nachgefragt haben, wo ihr versprochenes Geschenk bleibt. Sind auch darüber keine Dokumente mehr zu finden?
Willi Sitte bat in den achtziger Jahren auch seine Freunde in Prag, sich um sein Bild zu kümmern. Aber es kam nichts dabei heraus.

Es deutet also alles darauf hin, dass Geheimdienste – möglicherweise aus beiden Ländern – für das Verschwinden sorgten?
Ich kann es mir nicht anders vorstellen.

Sitte bei einem Besuch in Kratzau (2002) | © MÚ Chrastava

Sie trafen Willi Sitte zu vielen und langen Gesprächen, um mit ihm seine Biografie zu erstellen. Könnte er sich die Kritik seiner Genossen zu Herzen genommen und das Bild selbst übermalt haben – bzw. hatte er selbst eine Erklärung für das Verschwinden?
Ihm war das Verschwinden völlig unerklärlich. Und er war selbst natürlich maßlos enttäuscht darüber, dass es einfach weg war. Nach der Wende hat er es wohl aufgegeben, danach zu suchen und war auch nicht mehr in Lidice. Doch es hätte seinem Charakter komplett widersprochen, ein Bild auf Anordnung zu übermalen. Das lässt sich auch nachweisen. Es gibt ein Foto in einem Katalog von 1959, wo das Bild ausgestellt wurde, und ein weiteres von 1962 – sie sind völlig identisch. Und in dieser Zeitspanne hätte er es ja übermalen müssen.

Vor zehn Jahren veröffentlichten Sie ein Buch speziell zu „Lidice“. Davon gab es seitdem keine überarbeitete Neuauflage mehr. Trotz Ihrer Vermutung bezüglich der Geheimdienst-Verwicklung halten Sie diese Geschichte noch für offen. Haben Sie tatsächlich noch Hoffnung, dass das Gemälde 60 Jahre später irgendwo auftauchen könnte und nicht vernichtet wurde?
Ich habe diese Hoffnung und könnte mir vorstellen, dass sich möglicherweise mit Ihrer Veröffentlichung jetzt noch jemand daran erinnert. Als ich in Lidice war, wollte sich die Direktorin des Museums noch einmal darum kümmern, aber auch sie ist nicht fündig geworden. Ich denke, wenn es noch einen Hinweis auf die Existenz des Bildes gibt, dann müsste er aus Tschechien kommen.

„Höllensturz in Vietnam“ (Detail, 1966/67) | © Bob Ramsak, CC BY-NC-ND 2.0

Sie schreiben Sitte als wesentliches Verdienst zu, dass er die Kunst der DDR vom sowjetischen Kunstdiktat löste und ihr zu individueller Entwicklung verhalf. Er starb im Juni 2013. Welche Rolle nimmt Willi Sitte heute generell in der Kunstgeschichte ein?
Es gibt Anzeichen, dass Sittes Bedeutung für die Kunstgeschichte allmählich anerkannt wird. Ein eindeutiges Zeichen ist sicher die Retrospektive, die das Kunstmuseum Moritzburg in Halle/Saale vorbereitet. Sie soll am 3. Oktober eröffnet werden, sofern Corona dies zulässt.

Und welche Preise erzielen seine Bilder?
Ich habe eine Preisliste von 2009, anlässlich einer Ausstellung seines Galeristen. Damals kostete ein Bild von Sitte in der Größe 122×180 cm bereits 75.000 Euro.

„Kampf und Sieg der Arbeiterklasse“ an der Stadthalle Suhl (1977) | © APZ